„Eine philosophische Weltweisheit kümmert sich um das, was jeden interessiert“. Zum Tode Gernot Böhmes
Nachruf von Dieter Mersch und Eva Schürmann
26.01.2022 bis 25.04.2022
Gerade eben noch hatte er, aktiv und vital, ein Kolloquium zum „Menschen in der Gegenwart“ veranstaltet, hatte interveniert, als in seiner Heimatstadt Darmstadt die „Goethe-Buche“ abgeholzt werden sollte und hatte in der NZZ einen kritischen Text zum Historiker Yuval Harari veröffentlicht, als er am 20. Januar 2022 unerwartet plötzlich, kurz nach seinem 85. Geburtstag, verstarb. Böhme hinterlässt ein umfangreiches Werk mit über 20 Büchern und Hunderten von Aufsätzen zu allen Disziplinen der Philosophie, darunter die mit seinem Bruder Hartmut verfasste Kritik an Immanuel Kant, zwei Bücher mit seiner Frau Farideh und zuletzt eines mit seiner Tochter Rebecca zum Unbehagen im Wohlstand. Sein Themenspektrum reicht von systematischen Darstellungen zur antiken Philosophie, über die Ethik und Philosophische Anthropologie, bis zur Leibphänomenologie und zur Kapitalismuskritik. Die philosophische Ästhetik bereicherte er um das Konzept der „Atmosphäre“ als Erfahrung zwischen Subjekt und Objekt, und verband sie mit der Naturphilosophie und der Ökologie. Viele seiner Schriften wurden in andere Sprachen übersetzt, darunter das Japanische. Seine Aisthetik wurde 2020 ins Französische übersetzt, etliche seiner anderen Bücher ins Englische.
Die Kantische Vernunft hat er nicht nur um Dimensionen des Gefühls und des Leibes ergänzt, sondern geradezu psychoanalytisch jene leiblichen Verstellungen herausgearbeitet, die den rigorosen Vernunftbegriff Kants begleiten und ihn buchstäblich entsinnlichen. So erweist sich die Kantische Erkenntnistheorie entfremdet und leibvergessen, denn im Ideal des autonomen Vernunftmenschen erscheint dieser als ein idiosynkratisch unter Verdacht gestelltes Objekt, dessen Gefühle und Begehren verleugnet werden. Konträr zu den klassischen Lesarten Platons, die dessen abstrakte Ideenlehre in Differenz zur sinnlichen Welt stellt, hat er darüber hinaus den „Empiriker Platon“ herausgestellt und damit in die Nähe des Aristoteles gerückt. Mit dem Typ Sokrates hat er außerdem das Bild des Philosophen zeitgemäß aus dem Atopos, dem „Ortlosen“ und mutigen Störenfried erneuert, der sich einmischt und unbequeme Fragen stellt. Am Nachhaltigsten aber haben vielleicht seine zahlreichen Schriften zur Leiblichkeit, „als Natur, die wir selbst sind“ beeinflusst, die eine neue Dimension ästhetischer Wahrnehmung erschlossen, in der Atmosphären und Stimmungen weniger gewusst als vielmehr Gestalt in „Anmutungen“ leiblich erspürt werden. Hier schloss Böhme insbesondere an die ‚Neue Phänomenologie‘ von Herrmann Schmitz an, über den er gleichfalls hinausging und dessen System der Philosophie er anders akzentuierte, indem er stärker das „Zwischen“ und die „Interaktion“ von Mensch und Natur betonte. Ausschlaggebend sind dafür die „Dingekstasen“, denn die Welt und ihre Gegenstände stehen uns nicht fremd gegenüber, sie ragen gleichsam in uns hinein, zeigen sich uns, und zwar so, dass wir, wie es Schelling formulierte, durch sie „tingiert“, eingefärbt oder gestimmt werden, sodass wir ohne Gestimmtsein keinen Zugang zur Wirklichkeit finden: „In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Umgekehrt sind Atmosphären die Weise, in der sich Dinge und Umgebungen mir präsentieren.“
Diese Form der Neuperspektivierung einer ‚aisthetischen Ästhetik‘ hat weit über die philosophische Ästhetik hinaus in der Architektur, der Landschaftsästhetik, aber auch in den Kultur- und Theaterwissenschaften und der künstlerischen Arbeit Widerhall gefunden. Gleichzeitig erzeugte sie Anschlüsse an die ostasiatische Ästhetik, sodass von einem echten interdisziplinären Denken gesprochen werden kann. Dasselbe trifft auf die Wissenschafts- und Technikphilosophie oder die Medizinethik zu, wo immer Gernot Böhme sich einschaltete, gingen seine Überlegungen über rein akademische Debatten hinaus und erzeugten Resonanzen. Zuletzt hatte er sich Goethe und der Goetheschen Naturphilosophie zugewandt, war Vorsitzender der Goethe-Gesellschaft und – nach seiner Emeritierung 2002 – Gründer des Instituts für Praxis der Philosophie (IPPh), das sich neben der philosophischen Bildung und Weisheitslehre der praktischen Lebensführung mit Meditations- und anderen Übungen ganz im Sinne antiker Philosophieschulen widmete.
Am 3. Januar 1937 in Dessau geboren, studierte Böhme zunächst Mathematik, Physik und kam über seinen Mentor Carl Friedrich von Weizsäcker zur Philosophie, dessen Assistent er zwischen 1965 und 69 an der Universität Hamburg wurde. Später wechselte er nach Heidelberg zu Georg Picht, der mit Weizsäcker verwandt war, um dann zwischen 1970 und 77 erneut als wissenschaftlicher Mitarbeiter Weizsäckers am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg zu arbeiten und sich 1973 mit einer Schrift über die Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant an der Universität München zu habilitieren. 1977 erfolgte der Ruf für Philosophie an die Technische Universität Darmstadt, wo Böhme bis zu seiner Emeritierung lehrte. Zeitlebens hielt er sich jedoch in Distanz zu dem, was er als „wissenschaftliche“ Philosophie bezeichnete; mehr interessierte ihn die direkte philosophische Relevanz für praktische Lebensfragen und Lebenskunst. Daraus erwuchs umgekehrt auch der Stil der akademischen Arbeiten und der Lehre, Sokrates bildete neben Kant das Vorbildeiner Philosophie, die sich durch das bestimmt, was für alle von Belang ist, also die allgemeinen gesellschaftlichen Fragen. Dieses, auch politische Engagement, hat ihn von Anfang an getragen: Als Initiator entwarf er zusammen mit der Darmstädter Initiative für Abrüstung die Darmstädter „Verweigerungsformel“: „Ich erkläre hiermit, dass ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit als Wissenschaftler oder Techniker an der Entwicklung militärischer Rüstung nicht beteiligen will. Ich werde mich vielmehr um eine Aufklärung des Beitrages meines Fachgebietes zur Rüstungsentwicklung bemühen und der militärischen Verwendung wissenschaftlichen und technischen Wissens entgegenwirken“, die von mehr als 130 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unterzeichnet wurde. Er stritt für Nachhaltigkeit, für einen anderen Umgang mit Natur, durchaus mit Kritik an der Ökologiebewegung, wie sie aus dem Naturschutz kommt; er insistierte auf eine lebensweltliche Humanisierung der Wissenschaften und trat ein für ein „Menschsein“ als jeder Humanismuskritik und transhumanistischen Volte vorgängige Verpflichtung. Über die notwendige Erfahrung seiner eigenen Kreatürlichkeit werde sich schließlich der Mensch auch der destruktiven Kräfte der Technik, der Zerstörung der Umwelt und der Klimakrise bewusst, sodass seine philosophischen Überlegungen sich zuletzt zu einer kritischen Theorie der Technikentwicklung finalisierten. Weil darin überall der eigene Leib das nicht zu überspringende ‚Kriterium‘ und Zentrum bildet, wie es im Text Leibsein als Aufgabe heißt, erweist sich diese Technikkritik nicht als äußerlich, sondern gleichsam aus der Mitte heraus erfahren. Kritik beginnt also bei sich selbst, der Selbst-Erfahrung, doch muss diese allererst erstritten und kultiviert werden, wozu die praktischen Übungen seines Instituts für Praxis der Philosophie eine Anleitung geben wollten.
Die Deutsche Gesellschaft für Ästhetik verliert ein Mitglied, das die DGAE seit ihren Anfängen begleitet hat. Seine ehemaligen Schüler und Schülerinnen, Kolleginnen und Weggefährten nehmen Abschied von einem Denker, dessen Vorbildcharakter bleibt.
Für den Vorstand: Dieter Mersch und Eva Schürmann